Finanzverwaltung taktiert und vermeidet Verfassungsgerichtsentscheidung zur Abgeltungssteuer
05.10.2022
In unserer Juniausgabe hatten wir eine Entscheidung des Niedersächsischen Finanzgerichts kommentiert, das im März dieses Jahres dem Bundesverfassungsgericht die Frage vorgelegt hat, ob die deutsche Abgeltungssteuer für Kapitalerträge überhaupt verfassungsgemäß ist. Eine Vorlagefrage, deren Entscheidung weitreichende Folgen hätte haben können. Mit Beschluss vom 10.08.2022 hat das FG die Vorlage zurückgenommen. Was ist passiert? Das Finanzamt hat im Juni außergerichtlich nachgegeben und den Fall zugunsten des Steuerpflichtigen erledigt, sodass sich die grundsätzliche Frage nach der Verfassungswidrigkeit der Abgeltungssteuer nicht mehr stellt. Das Bundesverfassungsgericht kann ohne ein weiteres Verfahren in dieser Frage daher nicht entscheiden. An diesem Fall zeigt sich, dass die Finanzverwaltung durchaus auch taktisch agiert und zur Vermeidung einer – möglicherweise für den Gesetzgeber unliebsamen – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts lieber auf den Abschluss des Verfahrens verzichtet hat. In diesem Fall sicherlich zur Erleichterung vieler Steuerzahler. Trotzdem zeigt der Fall aber auch ein für viele unerwartetes Gesicht der Finanzverwaltung, die an dieser Stelle durch ihr Handeln aktiv in die Fortbildung gesetzlicher Rahmenbedingungen eingegriffen hat.